Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Sie alle kennen aus Ihren beruflichen Kontexten den Begriff – und den damit verbundenen Anspruch – der sog. „evidence-based medicine“, der das erste Mal Anfang der 1990er Jahre formuliert wurde und sich relativ rasch in der Fachwelt durchgesetzt hat. Mit dessen Hilfe sollten (und sollen) Methoden etabliert werden, die sicherstellen, dass bei einer medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit nur auf der Grundlage einer empirisch nachgewiesenen Wirksamkeit getroffen werden. Demzufolge wird auch die wissenschaftliche Aussagefähigkeit klinischer Studien heute durch Evidenzgrade beschrieben. All dies war sicherlich ein weiterer sinnvoller Schritt auf dem langen Weg, den die Humanmedizin von ihren Anfängen voller Wunderglaube und Quacksalberei hin zu einer seriösen wissenschaftlichen Disziplin über die Jahrhunderte zurückgelegt hat.
Wie so manche andere im Prinzip überaus sinnvolle Idee kann jedoch auch diese – wenn man sie nur ausreichend verdreht und/oder bis zur Unkenntlichkeit überstrapaziert – leicht missbraucht und ihre vorgesehene Wirkung so quasi ins Gegenteil verkehrt werden. In dieser Hinsicht könnte man die Politik, die ja gelegentlich auch die „Kunst des Kompromisses“ genannt wird, heute vielleicht eher die „Kunst der Instrumentalisierung“ nennen. So leugnen einige der wichtigsten (im Sinne von mächtigsten) Vertreter dieser zunehmend zwielichtigen Zunft den im Sinne eines wissenschaftlichen Konsenses längst unzweifelhaften Klimawandel perfiderweise gern mit vereinzelten abweichenden Meinungen meist unbedeutender und/oder selbst ernannter Forscher. Aus diesen wird dann leichterhand eine angeblich fehlende bzw. nicht ausreichende wissenschaftliche Evidenz konstruiert, auch wenn die „Smoking Gun“ – aktuell wortwörtlich: Australien – bereits vor aller Augen sichtbar ist. Man darf wie in dem was Aufrichtigkeit und Integrität angeht ähnlich gelagerten Fall der Tabakindustrie, die jahrzehntelang die schädlichen Folgen des Rauchens u.a. mit selbstfinanzierten Pseudo-Studien zu „widerlegen“ versuchte, auch in diesem Fall davon ausgehen, dass die Protagonisten sehr genau wissen, wie die tatsächliche Sachlage ist, diese jedoch der eigenen Interessenlage zuwiderläuft.
Interessanterweise wurde (und wird) der Begriff der „evidence“ im englischen Original ursprünglich wie auch heute hauptsächlich in einem ganz anderen Kontext verwendet: im juristischen Bereich, wo er mit „Beweis“ bzw. „Beleg“, aber auch „Zeugenaussage“ ins Deutsche zu übersetzen ist. Insofern bietet sich dem ironieaffinen Betrachter des Weltgeschehens aktuell im US-amerikanischen Senat ein in seiner ganzen Absurdität schon beeindruckendes Schauspiel, wenn die Parteigenossen des wichtigsten (im Sinne von mächtigsten) Mannes und obersten Klimawandelleugners der westlichen Welt alle möglichen Winkelzüge unternehmen, um im Impeachment-Verfahren jegliche Zeugenaus- sagen zu verhindern, die einer weiteren Wahrheitsfindung dienen könnten. Anscheinend ist „evidence“ hier nur dann erwünscht, wenn sie dem eigenen politischen Narrativ (und somit der Machterhaltung) dient.
Ihre
Dr. med. Andrea Schulz
Schriftleiterin Ästhetische Dermatologie