Wimpernseren: Kosmetik oder Funktionsarzneimittel?
Interview mit Astrid Tomczak (München)
Abgrenzungsfragen zwischen Arzneimitteln und Kosmetikprodukten sind ein Dauerbrenner im Pharmarecht. In einem heiß-umkämpften Markt wie der Kosmetikbranche wird gerne mit Superlativen und gesundheitsbezogen Werbeaussagen beim Endverbraucher gepunktet, was immer wieder Abmahnverfahren durch den Wettbewerb zur Folge hat oder die Aufmerksamkeit von Behörden auf Grenzprodukte lenkt. Aber nicht nur das Werbeverhalten ist teilweise fragwürdig, auch die Inhaltsstoffe, die in Kosmetikprodukten verwendet werden, regen zu Nachfragen an. Unlängst musste der Europäische Gerichtshof (EuGH) wieder zu einem solchen Thema entscheiden. Im Diskurs standen dieses Mal Wimpernwachstumsseren, die Prostaglandine bzw. strukturähnliche Moleküle enthalten. Im Interview mit Medizinconsultant Astrid Tomczak LL.M. (Pharmarecht) haben wir uns das Urteil näher angeschaut und seine Implikationen für die Branche besprochen.
Diskurs Dermatologie:
Frau Tomczak, wie kam es überhaupt dazu, dass der EuGH sich mit diesem Thema befassen musste?
Astrid Tomczak:
Wie Sie wissen, gibt es in Kosmetikprodukten immer wieder Bestandteile, die arzneilich wirksam sind. Dies wirft zwangsläufig die Frage auf, ob für den rechtmäßigen Vertrieb eine Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) notwendig ist. Das ist auch der Hintergrund zum vorliegenden Fall. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hatte einen Hersteller von Wachstumspräparaten für Wimpern abgemahnt. Das Produkt wird seit vielen Jahren als Kosmetikprodukt vertrieben, enthält selbst keine Hormone, aber strukturähnliche Stoffe. Da im Abmahnverfahren keine Einigung zu erzielen war, kam es zu einem Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln. Dieses bat den EuGH am 19. Dezember 2020 um einen Vorabentscheid, um die Klärung einiger Grundsatzfragen voranzutreiben.
Diskurs Dermatologie:
Um welche kritischen Punkte ging es hierbei?
Astrid Tomczak:
Zunächst bat das Verwaltungsgericht um Hinweise, wie generell die Grenze zwischen Kosmetikum und Arzneimittel zu ziehen sei und welche Kriterien hierfür heranzuziehen wären. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf dem Aspekt, ob eine nationale Behörde sich bei der wissenschaftlichen Feststellung der pharmakologischen Eigenschaften eines Produkts auf eine sogenannte Strukturanalogie stützen kann. Hierbei erfolgt die Bewertung von Wirkungen, Risiken, Wechselwirkungen eines Stoffs anhand bereits bekannter und untersuchter Wirkstoffe, ohne dass der Antragsteller eigene Untersuchungen zu Wirkungsweisen des neuen Stoffs vorgelegt hat. Das streitgegenständliche Produkt enthält eine Konzentration von zwischen 0,001% und 0,302% des Wirkstoffs „Methylamido-Dihydro-Noralfaprostal“ (im Folgenden: MDN). Nach Ansicht des BfArM handelt es sich bei MDN um einen neuartigen synthetischen Wirkstoff, der zur Gruppe der Prostaglandinderivate gehört und weitgehend identisch mit Bimatoprost ist. Bimatoprost ist wesentlicher Bestandteil des verschreibungspflichtigen Arzneimittels „Lumigan“ Augentropfen. Diese werden zur Behandlung des Glaukoms verschrieben. Wer sich mit der Historie zu Wimpernwachstumsseren beschäftigt hat, mag sich daran erinnern, dass Glaukompatienten die ersten waren, die den Effekt des Arzneimittels auf das Wimpernwachstum erfahren haben. Im Anschluss wurden dann entsprechende Seren für den Kosmetikmarkt entwickelt.
Die zweite Frage befasste sich mit der Auslegung des Funktionsarzneimittelbegriffs. Das Verwaltungsgericht Köln wollte wissen, ob ein Produkt, das die physiologischen Funktionen beeinflusst, aber keine gesundheitsfördernde Wirkung hat, ein Arzneimittel sein kann. Und zwar vor allem dann, wenn das Produkt das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben.
Diskurs Dermatologie:
Zu welchen Ergebnissen ist der Europäische Gerichtshof gekommen?
Astrid Tomczak:
Die Vorlagefrage bezüglich der Verwendung von Daten, die sich auf strukturanaloge Wirkstoffe beziehen, hat der EuGH positiv beschieden. Danach dürfen die pharmakologischen Eigenschaften eines Wirkstoffs auch auf einen anderen Wirkstoff übertragen werden, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Dazu gehört, dass keine wissenschaftlichen Untersuchungen des Stoffes, aus dem das Produkt besteht, verfügbar sind. Außerdem muss der Grad der Analogie auf der Grundlage einer objektiven und wissenschaftlich fundierten Analyse die Annahme zulassen, dass ein Stoff, der in einem Produkt in einer bestimmten Konzentration vorhanden ist, die gleichen Eigenschaften aufweist wie ein vorhandener Stoff, für den die erforderlichen Untersuchungen vorliegen. Wichtig ist hierbei zu erwähnen, dass die pharmakologischen Eigenschaften des Stoffs nicht das einzige Kriterium zur Kategorisierung des Produkts sein dürfen.
Hinsichtlich der anderen Vorlagefrage hat sich der EuGH wie folgt geäußert: „Ein Produkt, das die physiologischen Funktionen beeinflusst, kann nur dann als ‘Arzneimittel‘ im Sinne des Arzneimittelrechts eingestuft werden, wenn es konkrete, der Gesundheit zuträgliche Wirkungen hat. Insoweit genügt eine Verbesserung des Aussehens, die durch die Steigerung des Selbstwertgefühls oder des Wohlbefindens einen mittelbaren Nutzen herbeiführt, wenn sie die Behandlung einer anerkannten Krankheit ermöglicht. Dagegen kann ein Produkt, das das Aussehen verbessert, ohne schädliche Eigenschaften zu haben, und das keine gesundheitsfördernden Wirkungen hat, nicht als „Arzneimittel“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden“.
Damit führt der EuGH seine bisherige Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs „beeinflussen“ fort. Das zu beurteilende Produkt muss dem Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich der menschlichen Gesundheit zuträglich sein. Zur Erfüllung dieses Kriteriums ist die potenzielle Fähigkeit der unmittelbaren oder mittelbaren Zuträglichkeit ausreichend. Das Produkt ist jedoch dann kein Arzneimittel, wenn es nicht einmal potenziell zur Behandlung einer anerkannten Krankheit verwendet wird. Hierbei wird auf die Anwendung bzw. den spezifischen Gebrauch abgestellt, den der EuGH jedoch nicht näher definiert. Die erforderliche gesundheitsfördernde Wirkung fehlt. Daher fallen Produkte, die zwar Einwirkungen auf die Funktionsweise des Körpers haben, jedoch rein kosmetische Effekte hervorrufen, nach der Sicht des EuGH nicht unter den Begriff des Funktionsarzneimittels.
Diskurs Dermatologie:
Was bedeutet das Urteil nun für Hersteller von Kosmetikprodukten?
Astrid Tomczak:
Hersteller von kosmetischen Mitteln müssen in Zukunft noch sorgfältiger prüfen, welche Inhaltsstoffe sie verwenden. Neu ist, dass sie nicht nur die Wirkweise der in den eigenen Produkten verwendeten Inhaltsstoffe im Auge behalten müssen. Wichtig ist es vielmehr, auch die Beurteilungen hinsichtlich vergleichbarer Stoffe zu beachten und deren Bedeutung in die eigene Produktentwicklung einfließen zu lassen. So sollte sich vermeiden lassen, dass ein Produkt, welches tatsächlich ein Arzneimittel darstellt, als Kosmetikum in Verkehr gebracht wird. Diese Gefahr wird zwar durch die weitere Prüfung bzgl. der gesundheitlichen Zuträglichkeit und des spezifischen Gebrauchs relativiert. Nichtsdestotrotz dürfte es den Herstellern lieber sein, langwierige Gerichtsverfahren durch eine gründliche Vorabrecherche nach Möglichkeit zu umgehen.
Diskurs Dermatologie:
Wie beurteilen Sie persönlich das Urteil des EuGH?
Astrid Tomczak:
Ich bin zwiegespalten. Was in der juristischen Welt als möglicher Zugewinn im Hinblick auf die Auslegung des Funktionsarzneimittelbegriffs gefeiert werden mag, geht in medizinischer Sicht nach meiner Meinung an der Sache vorbei. Das heutige Arzneimittelrecht wurde im Lichte des Contergan-Skandals als Mittel des vorbeugenden Gesundheitsschutzes geschaffen. Bereits seit 2017 warnte beispielsweise das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit vor den Nebenwirkungen hormonhaltiger Wimpernseren und rät von deren Verwendung ab. Zu den Nebenwirkungen bei mit entsprechenden Hormonen versehenen Fertigarzneimitteln zählen u.a. sehr häufig verstärkte Durchblutung des Auges sowie Augenjucken, Augenreizungen, Veränderungen der Wimpern (Zunahme von Länge, Dicke und Anzahl der Wimpern), trockenes Auge, Dunkelfärbung der Haut des Augenlids sowie eine verstärkte, wahrscheinlich irreversible Irispigmentierung. Eine häufige Exposition des Auges mit Bimatoprost kann dazu führen, dass Prostaglandinhaltige Arzneimittel zur Senkung des Augeninnendruckes ihre Wirksamkeit verlieren. Eine Anwendung bei Kindern und Jugendlichen (< 18 Jahre) ist kontraindiziert. Der Wirkstoff kann in die Muttermilch übergehen und zeigte im Tierversuch embryotoxische bzw. teratogene Wirkungen. Ich bin sehr erstaunt, dass diese Erkenntnisse nicht in das Urteil eingeflossen sind. Denn der Gefahrenaspekt wird erwähnt (“…ohne schädliche Eigenschaften zu haben…“), fließt aber nicht in die Produktkategorisierung des Wachstumsserums ein.
DISKURS Dermatologie:
Sehr geehrte Frau Tomczak, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte S. Höppner.