Diagnostik

Lippen- und Gesichtstumore: Mit richtiger Diagnostik Operationen vermeiden

Wenn Tumore im Gesicht und an den Lippen schnell wachsen und möglicherweise bösartig sein könnten, fällt die Entscheidung zu operieren meist rasch: mit der Konsequenz, dass dann aufwendige plastische Rekonstruktionen nötig werden. Es gibt aber Tumore, bei denen andere Therapien helfen. Gefragt sind also eine gesicherte Diagnose und ein Abwägen im Sinne des „klug entscheiden“. Wann eine Operation nötig und wann „einfache“ Verfahren oder konservative Therapien greifen, erläuterten Experten der Deutschen Dermatologische Gesellschaft e.V. (DDG) bei einer Veranstaltung im Rahmen der 51. DDG-Tagung.

Zu Beginn der Coronapandemie – und möglicherweise auch bald wieder im Kontext der 4. Coronawelle – waren auch dermatologische Kliniken gezwungen, sich auf dringliche operative Eingriffe zu beschränken, um personelle und ausstattungstechnische Kapazitäten für an COVID-19 erkrankte Patienten verfügbar zu machen. „In besonderem Maße war hiervon die Indikationsstellung auf dem Gebiet der Hautoperationen betroffen, die rein von der Anzahl her die häufigsten Operationen betreffen“, erklärt Professor Dr. med. Roland Kaufmann, Direktor der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie am Universitätsklinikum Frankfurt und Past-Präsident der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). Es galt also, in einer noch differenzierteren Art und Weise als sonst bei jedem einzelnen Fall ‘klug‘ zu entscheiden. Das Fach Dermatologie ist dual ausgerichtet: Es bietet auf der einen Seite eine konservativ-lokale wie systemischmedikamentöse Therapie und auf der anderen Seite operative Behandlungstechniken. Das Abwägen nach erfolgter und gesicherter Diagnose gehöre jedoch nicht erst seit Corona zum Alltag von Dermatologinnen und Dermatologen, so der DDG-Past- Präsident.
Besonders gut veranschaulichen kann man dies auf dem Gebiet der Tumortherapie im sensiblen Bereich der Kopfhautregion an Gesicht und Lippen. Hier spielen bei der Wahl der Therapie funktionell-ästhetische Aspekte eine wichtige Rolle. So profitieren Dermatologinnen und Dermatologen aktuell in besonderem Maße von einem Prinzip des „Klug-Entscheidens“. Es basiert auf einer sorgfältig gestellten differential-diagnostischen Einordnung der jeweiligen Hautläsion und damit auf einer sachgerechten Abwägung verfügbarer konservativer und/oder operativer Behandlungsalternativen. Anders sei eine korrekte Indikationsstellung für einen operativen Eingriff nicht zu gewährleisten, so Kaufmann.

Das Keratoakanthom beispielsweise ist ein epidermaler Tumor, der sich bevorzugt im Gesicht oder am Kopf (also an sonnenexponierten Hautarealen) bildet, schnell wächst und sich auch spontan zurückbilden kann. Der kraterartige Tumor, aus dem ein Hornkegel herauswächst, wird meist bei Menschen über 60 Jahren diagnostiziert. „Herausfordernd ist beim Keratoakanthom, dass es dem bösartigen Plattenepithelkarzinom (Spinaliom) ähnelt“, erklärt Kaufmann. Differentialdiagnostisch sei die Abgrenzung zum Plattenepithel- karzinom zudem nicht einfach, da sie sich von außen betrachtet und histopathologisch ähneln. Weil das Keratoakanthom so schnell wachse, werde es nicht selten unter der Diagnose eines Plattenepithelkarzinoms leitlinienkonform mit Sicherheitsabstand operativ entfernt, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass es zu einer bösartigen Weiterentwicklung kommt. Für den DDG-Experten ist das nicht der richtige Weg: „Klinischpathologische Fehleinschätzungen von Tumoren führen zu unnötigen Über-Operationen mit der Notwendigkeit ausgedehnter plastischer Rekonstruktionen, wo es einfache Verfahren oder konservative Therapien ebenfalls getan hätten.“

Mit Hilfe einer speziellen Gewebeprobe (Querschnittsbiopsie) kann man das Keratoakanthom auch feingeweblich gut von einem bös- artigen Lippenkarzinom abgrenzen und die richtigen Weichen stellen. Dann lassen sich beispielsweise durch Injektionen oder wenig ausgedehnte Operationen die Funktionalität und Integrität der Lippe erhalten. Therapien sollten nicht durch die Verfügbarkeit einer speziellen Technik, sondern durch den Sachverstand bei Diagnosestellung gesteuert werden – das mache ‘klug entscheiden‘ aus, fasst Kaufmann zusammen.

Die Initiative „klug entscheiden“ hat die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) nach usamerikanischem Vorbild (‘choosing wisely‘) vor gut fünf Jahren in Deutschland gestartet. Ziel ist es, diagnostische und therapeutische Maßnahmen evidenzbasiert zu identifizieren, die entweder zu selten (Unterversorgung) oder zu häufig (Überversorgung) ergriffen werden. „klug entscheiden“ ist also eine Qualitätsoffensive, zu der zahlreiche Fächer bereits ihre Empfehlungen für „Dos and Don‘ts“ geleistet haben.

„Wir Dermatologen handeln im beruflichen Alltag sehr häufig nach der Devise‚ klug entscheiden‘ – auch als Fachgesellschaft berücksichtigen wir das in unseren Leitlinien “, erklärt Professor Dr. med. Peter Elsner, Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG). Auch in der Dermatologie fänden sich Indikationen, die auf den Prüfstand sollten, um im Falle einer Unterversorgung zu einer Positivempfehlung zu kommen – oder zu einer Negativempfehlung, wenn der Nutzen der durchgeführten Maßnahme wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden kann. T

Quelle: Deutsche Dermatologische Gesellschaft e.V.

Literatur

1. Sammelband Klug Entscheiden 2021. Deutsches Ärzteblatt Hefte 13 (2016) – 12 (2021) April 2021. https://www.klug- ent- scheiden.com/fileadmin/user_upload/2021_ Sammelband_Klug_entscheiden_Web_final.pdf