Orthopädie

Einsatzmöglichkeiten von Botulinumtoxin in der Orthopädie

Anwendungen mit Botulinumtoxin können das Therapiespektrum in der Orthopädie sinnvoll ergänzen. Unter welchen Voraussetzungen und für welche Indikationen diese in Betracht kommen können, erläuterten Experten der Neurologie und Orthopädie im Rahmen des diesjährigen VSOU-Kongresses.

In den 1970iger Jahren haben Augenärzte zum ersten Mal Botulinumtoxin bei Patienten mit Augenkrankheiten wie Strabismus und Blepharospasmus (krampfartiger Lidschluss) erfolgreich eingesetzt. Das Wirkprinzip von Botulinumtoxin umfasst eine chemische „Denervierung“, die etwa drei bis maximal neun Monate anhält, erläuterte Prof. Dr. med. Marcela Lippert-Grüner, Fachärztin für Neurologie, Rehabilitationswesen und Psychotherapie in Bonn. In der Skelettmuskulatur treten die klinischen Effekte meistens nach zwei bis drei Tagen auf und halten drei bis vier Monate an. In der glatten Muskulatur und Drüsengewebe treten die klinischen Effekte später ein (1-2 Wochen) und haben eine längere Wirkdauer von sechs bis neun Monaten.

Therapeutische Misserfolge treten vornehmlich dann auf, wenn das Toxin beispielsweise über- oder unterdosiert eingesetzt wird, das Toxin abwandert oder Patienten Antikörper bilden. Die Bildung von neutralisierenden Antikörpern tritt bei etwa 1,2% der Patientenpopulation auf. Die häufigsten behandlungsbedingten Nebenwirkungen waren bei Patienten mit zervikaler Dystonie leichte bis mittelschwere Schwäche, Dysphagie, Nackenschmerzen und Schmerzen an der Injektionsstelle. [1]

Die Abwanderung des Toxins kann insbesondere an der Halsregion oder bei Anwendungen ums Auge herum auftreten, was dort zu Ptose oder Doppelsehen führen kann. Als Kontraindikationen für Botulinumtoxin- Anwendungen nannte die Expertin Myasthenia Gravis, Lambert-Eaton-Syndrom, andere neuromuskuläre Erkrankungen, Schwangerschaft und die Einnahme von Aminoglykosiden. Da Patienten individuell ansprechen, empfahl Lippert-Grüner für möglichst optimale Behandlungsergebnisse stets mit einer mittleren Dosierung anzufangen und sich strikt an die Maximal-Dosis der Hersteller-Angaben zu halten.

Einsatzmöglichkeiten für Botulinumtoxin

Weitere Einsatzmöglichkeiten für Botulinumtoxin sind Hemispasmus facialis, (infantile) Zerebralparese, Spastik (z.B. nach Schlaganfall) der oberen und unteren Extremität, Faltenbehandlung im Gesicht (Glabella), bei chronischer Migräne [2] , überaktive Blase, Bruxismus, Hypersalivation und Trigeminus Neuralgie [3].

Botulinumtoxin ist eine interessante Substanz bei therapierefraktären Patienten, so Dr. med. Stephan Grüner, Orthopäde in Köln. Der Einsatz von Botulinumtoxin ist keine Akuttherapie, sondern stellt eine Alternative beim Therapieversagen unter herkömmlichen bzw. etablierten Verfahren dar, gab der Experte zu bedenken. Die sicherere Anwendung von Botulinumtoxin ist insbesondere für Orthopäden, die durchweg große Erfahrung mit dem Setzen von Injektionen haben, relativ einfach und schnell zu erlernen. Diese Tatsache kann einen Vorteil der Orthopädie gegenüber anderen Fachdisziplinen darstellen, so die Einschätzung von Grüner. Mit entsprechenden Weiterbildungen können Fachkenntnisse zum Einsatz von Botulinumtoxin erworben werden.

Botulinumtoxin erweitert grundsätzlich das Behandlungsspektrum zum Beispiel in Bezug auf Individual- Leistungen von Patienten (ästhetische Medizin) oder als Leistung in Grenzindikationen des Faches (z.B. Schmerztherapie). Es gibt erste Hinweise auf einen dualen Wirkmechanismus von Botulinumtoxin, schilderte Grüner. Neben den motorischen Effekten regt Botulinumtoxin wohl auch eine sensorische Schmerzlinderung an, speziell bei neuropathischen Schmerzen.

Weitere orthopädisch-schmerz-therapeutische Behandlungsbereiche wären laut Grüner beispielsweise Om-, Gon- und Coxarthrose, Post-Zosterneuralgie, myofaziale Schmerzsyndrome an Nacken und Schultergürtel inklusive Zervikozephalgien, Plantarfasziitis sowie chronische Epicondylitis humeroradialis.

Die laterale Epicondylitis ist laut Grüner eine häufige Erkrankung in der orthopädischen Praxis. Obwohl die meisten Fälle nicht chronisch werden, können Patienten, die nicht auf die Erstbehandlung ansprechen, langfristig unter Schmerzen leiden. Wenn konventionelle Behandlungsoptionen versagen, ist die Off-Label-Verwendung von Botulinumtoxin in der Orthopädie und Traumatologie hierbei eine Option. Seine bisherigen Erfahrungen legen nahe, dass die Verwendung dieser Substanz eine Behandlungsoption in refraktären chronischen Fällen sein kann, bevor eine Operation angezeigt ist. [4]

Praktische Tipps zum Einsatz von Botulinumtoxin

Da der Einsatz von Botulinumtoxin primär nicht für orthopädische Indikationen zugelassen ist, müssen Patienten im Vorfeld der Therapie zum Off-Label-Use ausreichend aufgeklärt werden, so der Rat von Dr. med. Axel Schulz, Orthopäde und Unfallchirurg in Lüdenscheid. Daher sollte vorab ebenfalls die Kostenübernahme mit Patienten und Kostenträgern abgeklärt werden.

Da sich die verschiedenen Präparate auf dem Markt hinsichtlich der jeweiligen Einheiten unterscheiden, ist unbedingt auf eine Dosisäquivalenz zu achten. Insbesondere bei den Angaben in der Literatur ist darauf zu achten, welche Präparate genau verwendet wurde.

Die Angaben in klinischen Studien zu den Dosierungen stellen grundsätzlich Richtwerte dar, die in der Praxis patientenindividuell variieren können – auch je nachdem, ob ein großer Muskel oder ein kleinerer Muskel behandelt wird. Daher rät Schulz, sich stets an eine Dosierung heranzutasten, wo besser mit einem „zu wenig“ als einem „zu viel“ begonnen wird. Die Zubereitung des Präparates sollte durch geübte Behandler und eigens für die jeweilige Indikation erfolgen. Hierbei kann es hilfreich sein, sich für bestimmte Präparate die bevorzugten Injektionsvolumina in einer Übersicht zusammenzustellen.

Hinweise an Patienten nach der Anwendung

Da Botulinumtoxin relativ empfindlich ist, sollten Patienten nach der Injektion darauf achten, 24 Stunden lang am Injektionsgebiet weder zu kratzen, zu reiben noch zu massieren und sich keiner übermäßigen Hitze (z.B. in der Sauna) auszusetzen. Außerdem sollten Patienten darüber aufgeklärt werden, dass meistens ein verzögerte Wirkeintritt zu beobachten ist, mit den stärksten Effekten nach ein bis zwei Wochen. Außerdem sollte innerhalb der folgenden drei bis vier Monate darauf verzichtet werden, das gleiche Präparat noch einmal zu verwenden, um eine Antikörperbildung zu vermeiden.

Anwendungen mit Botulinumtoxin sind keine „Stand-alone“-Therapie, gab Schulz abschließend zu bedenken. Botulinumtoxin komme nur als Begleittherapie zusammen mit anderen Interventionen wie beispielsweise Krankengymnastik, manueller Therapie oder anderen Hilfsmitteln (z.B. Einlagen) in Betracht.

Quelle: Kurs/Seminar IGOST „Botulinumtoxin in der Schmerztherapie“ anlässlich des VSOU, 30. April 2021

Literatur

1. Brim M et al. Mov Disor- ders.2008;23(10):1353-1360.
2. Blumenfeld A et al. Heada- che.2010;50(9):1406-1418.
3. Wu CJ et al. Cephalalgia.2012;32(6):443-450.
4. Grüner et al. Z Orthop Unfall.2020;doi:10.105 5/a-1202-6220.