Osteologie

„Wir fokussieren uns auf Innovation in der Versorgung von Knochenerkrankungen“

Interview mit P. Richetta, UCB S.A., Belgien

Frau Dr. Pascale Richetta ist schon ein “alter Hase“ in der Pharma- und Biotechnologieindustrie mit über 20 Jahren Berufserfahrung. Sie begann ihre Karriere als Ärztin und war danach in verschiedenen Funktionen u.a. für die Firmen Servier, Ipsen Biotech, GlaxoSmithKline, Abbott und AbbVie tätig. Seit 2016 bekleidet sie bei UCB die Positionen als Executive Vice President sowie Head of the Bone Patient Value Unit (bPVU). Wir sprachen mit Frau Dr. Richetta über die Herausforderungen und Ziele dieser speziell auf die Osteoporosebekämpfung fokussierten Unternehmenseinheit.

Osteoporose, Orthopädie & Rheuma aktuell:

Frau Dr. Richetta, die Bezeichnung “Bone Patient Value Unit” klingt interessant, aber auch etwas abstrakt. Was hat man sich genau darunter vorzustellen, was sind die Aufgaben dieser Abteilung innerhalb des Unternehmens UCB?

Dr. Richetta:

UCB stellt ganz generell in allen Therapiebereichen, in denen wir uns engagieren, den hohen, zum Teil auch noch gar nicht erkannten medizinischen Bedarf von Patienten in den Mittelpunkt. Wir möchten Patienten damit eine bessere Lebensqualität ermöglichen, ihnen einen wirklichen Nutzen bieten – und in Summe damit auch einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen. Die Bone Patient Value Unit (bPVU) hat konkret das Ziel, einen nachhaltigen Wert für Osteoporose-Patienten zu erreichen. Dies gelingt mit einem integrierten Team, das vor allem den in der Prüfung befindlichen Osteoporose-Wirkstoff Romosozumab von der Phase II bis zur Vermarktung weiterentwickelt und begleitet. Der andere Aspekt, auf den sich die bPVU konzentriert, ist sicherzustellen, dass Patienten nach Frakturen auch wirklich behandelt werden, da dies unserer Mei-nung nach noch nicht ausreichend medizinisch abgedeckt wird. Wir fokussieren uns auf Innovation in der Versorgung von Knochenerkrankungen.

Osteoporose, Orthopädie & Rheuma aktuell:

Welche Auswirkungen hat die von Ihnen beobachtete Unterversorgung und z.T. fehlende Diagnostik bei Osteoporose? Kann man hier schon von einer Krise in der Patientenversorgung sprechen?

Dr. Richetta:

Ja, durchaus! Aus unserer Sicht ist die Osteoporose viel zu lange bagatellisiert worden, obwohl sie untherapiert oder unzureichend therapiert dramatische Auswirkungen auf die Lebensqualität der Betroffenen haben kann. Ab einem gewissen Nettoverlust der Knochenstärke wird der Knochen eben schwach und zerbrechlich, sodass selbst ein leichter Stoß oder Sturz aus geringer Höhe zu einem gebrochenen Knochen – einer osteoporosebedingten Fraktur – führen kann. Alle drei Sekunden bricht sich weltweit jemand einen Knochen aufgrund von Osteoporose. Das sind fast neun Millionen Brüche im Jahr! Mit mehr als 200 Millionen Menschen, die weltweit betroffen sind, wird Osteoporose zu einem erheblichen und wachsenden Problem der öffentlichen Gesundheit. Jedoch erhalten weniger als 20% der be-troffenen Patienten die korrekte Diagnose Osteoporose, weniger als ein Drittel der Patienten erhält nach einer Fraktur eine Behandlung und weniger als 50% der Betroffenen führen die Therapie nach sechs Monaten fort.

All dies wird umso bedenklicher angesichts des demographischen Wandels in der Bevölkerung mit einem zunehmenden Anteil älterer Menschen. Weltweit wird bei einer von drei Frauen und bei einem von fünf Männern in einem Alter von über 50 Jahren eine osteoporotische Fraktur auftreten. Allein für die EU bedeutet dies, dass bis zum Jahr 2025 zu erwarten ist, dass 33,9 Millionen Menschen an Osteoporose erkranken – im Vergleich zum aktuellen Stand bedeutet das einen Anstieg von 23%. Diese Trends müssen umgekehrt werden: Durch eine bessere Aufklärung von Osteoporose-Patienten und deren Ärzten.

Osteoporose, Orthopädie & Rheuma aktuell:

Wann ist es denn allerspätestens Zeit, therapeutisch einzugreifen?

Dr. Richetta:

Ideal ist es natürlich, wenn eine mangelnde Knochendichte und andere Risikofaktoren so frühzeitig erkannt und behandelt werden, dass erst gar keine Frakturen auftreten! Mit der Früherkennung – und mit der Übernahme der dadurch entstehenden Kosten – ist es aber nicht nur in diesem Bereich in der täg-lichen Praxis bekanntermaßen schwierig. Allerspätestens wenn bereits eine Fragilitätsfraktur auf-getreten ist, sollten bei dem behandelnden Arzt aber alle Alarmglocken läuten und eine angemessene Diagnostik und evtl. Therapie eingeleitet werden.

Ich erwähnte ja bereits, dass aktuell weniger als ein Drittel der Patien-ten trotz bereits aufgetretener Fraktur eine adäquate Osteoporose-Behandlung erhält! Dies ist umso inakzeptabler, wenn man sich vor Augen führt, dass Patienten, die bereits eine osteoporosebedingte Fraktur erlitten haben, ein eminent erhöhtes Risiko für nachfolgende Brüche haben – bei Frauen derselben Altersgruppe mit vorheriger Fraktur ist das Risiko eines weiteren Bruchs doppelt so hoch wie bei Frauen ohne vorhergehender Fraktur!

Osteoporose, Orthopädie & Rheuma aktuell:

In der öffentlichen Diskussion stehen naturgemäß auch die sozio-ökonomischen Kosten der sogenannten Volkskrankheiten im Fokus. Wie sieht es diesbezüglich bei der Osteoporose aus?

Dr. Richetta:

Fragilitätsfrakturen als Folgen der Osteoporose haben natürlich neben den zum Teil dramatischen Auswirkungen für den jeweils Betroffenen auch wirtschaftliche Auswirkungen. So gehen sie oft mit einem Verlust von Unabhängigkeit einher – bis hin zur Einweisung in ein Pflegeheim oder eine Langzeitpflegeeinrichtung. Wir sehen nicht-skelettale klinische Folgeerscheinungen wie chronische Schmerzen, Depressionen und Komplikationen durch Krankenhausaufenthalte, allgemeine Unfähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen, eine Verringerung der Lebensqualität und zunehmende Gebrechlichkeit, Sorgen vor zukünftigen Stürzen, Brüchen und Inanspruchnahme von häuslicher Pflege, eine Belastung von Patienten und Pflegepersonal durch verlorene Arbeitstage und Löhne etc. Bei Frauen in einem Alter von über 45 Jahren dauert ein Osteoporosebedingter Krankenhausaufenthalt im Durchschnitt länger als z.B. bei Diabetes, einem Herzinfarkt oder bei Brustkrebs. Osteoporosebedingte Frakturen sind darüber hinaus auch mit einer erhöhten Mortalität assoziiert.

Um auch konkrete Zahlen zu nennen: Osteoporosebedingte Frakturen führen in den USA jährlich zu 4.863.977 Krankenhausaufenthalten, was jährlichen Kosten von 5,1 Milliarden US-Dollar entspricht. Im Vergleich hierzu liegen die jährlichen Kosten von Krankenhausaufenthalten für Brustkrebspatientinnen bei 0,5 Milliarden US-Dollar, für Schlaganfallpatienten bei 3,0 Milliarden US-Dollar und für Patienten mit Myokardinfarkt bei 4,3 Milliarden US-Dollar. [1] In der Europäischen Union beliefen sich die Kosten für Fragilitätsfrakturen allein im Jahr 2010 auf 37 Milliarden Euro; diese Summe wird sich aufgrund des demographischen Wan-dels bis zum Jahr 2050 voraus- sichtlich verdoppeln. [2,3]

Osteoporose, Orthopädie & Rheuma aktuell:

Osteoporose und die entsprechende Behandlung sowie Nachsorge bedeuten offenbar eine große Herausforderung für alle Akteure im Gesundheitswesen. Sehen Sie in diesem Zusammenhang für die Ärzte auch neue Chancen?

Dr. Richetta:

Die Herausforderungen sind in der Tat ganz erheblich. Die Fachkräfte im Gesundheitswesen müssen das Screening, die Diagnose und die Behandlung von Hochrisikopatienten verbessern. Idealerweise bräuchten wir ein Screening aller postmenopausalen Frauen ab einem Alter von 50 Jahren auf Osteoporose und Frakturrisiko. Ärzte müssen geeignete Schlüsselfragen stellen und Anzeichen suchen, die Patienten mit einem Risiko für Osteoporose identifizieren. Es muss das gesamte allgemeine Frakturrisiko ermittelt und berücksichtigt werden, nicht nur die Knochenmineraldichte (BMD); Patienten mit erhöhtem Risiko müssen adäquat behandelt werden. Ziel sollte es sein, durch Anwendung eines Post-Fraktur-Versorgungsmodells das Risiko von Folgebrüchen zu reduzieren und eine “Bruchkaskade“ zu verhindern.

Chancen sehe ich in der naturgemäß langfristig angelegten Osteoporosebehandlung vor allem in der Verbesserung des Arzt-Patienten-Verhält- nisses. Es ist notwendig, die Kommunikation mit Patienten über den Zusammenhang von Fraktur und Osteoporose und über Nutzen und Risiken der Behandlung zu verbessern. Es besteht allgemein ein Man- gel an öffentlichem Bewusstsein für Osteoporose und ein Missverständnis darüber, dass Osteoporose un- vermeidlich mit dem Älterwerden verbunden sei. Dies kann durch eine Aufklärung der Patienten geändert werden, die klar kommuniziert, dass eine osteoporosebedingte Fraktur keine “normale Alterserscheinung“, sondern ein Anzeichen für eine zugrundeliegende Skelettschwäche und ein potentielles Warnzeichen für zukünftige Brüche ist.

Entstehende Ängste der Patienten sollten feinfühlig erkannt und adressiert sowie die Informationen in verschiedenen leicht verständlichen Formaten präsentiert werden. Bei der Aufklärung über Möglich-keiten zur Behandlung von Osteo-porose sollte nach den Methoden einer “partizipativen Medizin“ vorgegangen und die Patientin bzw. der Patient somit stärker einbezogen und zur Therapietreue motiviert werden. Dieser Punkt ist wirklich ausgesprochen wichtig! Wie bereits erwähnt, führen momentan weniger als 50% der Betroffenen die Behandlung nach sechs Monaten fort!  Zur Verbesserung des langfristigen Erfolgs der Osteoporosebehandlung muss daher unbedingt die Therapietreue des Patienten überwacht und deren Relevanz eindeutig dargestellt werden. Hierzu sollten Barrieren für die Adhärenz erkannt werden, z.B. Nebenwirkungen von Medikamenten oder eine unbequeme und komplizierte Dosierung. Regelmäßige Gespräche zur Einhaltung der Therapietreue sind nicht nur sachdienlich, sie verbessern auch insgesamt die Kommunikation von Arzt und Patienten und stärken das Vertauensverhältnis.

Osteoporose, Orthopädie & Rheuma aktuell:

Sehr geehrte Frau Dr. Richetta, vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte S. Höppner.

Literatur

1. Singer A, et al. Mayo Clin Proc. 2015;90:53-62

2. Reginster JY, Burlet N. Osteoporosis: A still increasing prevalence. Bone. 2006 Feb; 38  (2 Suppl 1): S4-9.

3. Hernlund E, Svedbom A, Ivergard M, et al. Osteoporosis in the European Union: medical management,epidemiology and economic burden. A report prepared in collaboration with the International Osteoporosis Foundation (IOF) and the European Federation of Pharmaceutical Industry Associations (EFPIA). Arch Osteoporos, 2013; 8:136.