Osteologie

Diffuse Extremitätenschmerzen im Frühstadium einer myeloproliferativen Neoplasie

Sebastian Radmer1, Julian Ramin Andresen2, Reimer Andresen3

  1. Facharztpraxis für Orthopädie, Zentrum für Bewegungsheilkunde, Berlin
  2. Medizinische Fakultät der Sigmund-Freud-Privatuniversität, Wien
  3. Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie / Neuroradiologie, Westküstenklinikum Heide, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universitäten Kiel, Lübeck und Hamburg, Heide

Schlüsselwörter:

Diffuser Knochenschmerz, Fatigue, Myeloproliferative Neoplasie, Polyglobulie, Primäre Myelofibrose

Myeloproliferative Neoplasien (MPN) sind seltene bösartige Erkrankungen des Knochenmarks, bei denen zu viele Erythrozyten, Leukozyten und/ oder Thrombozyten gebildet werden. Zu den häufigsten Formen gehören die Polyzythämia vera, essentielle Thrombozythämie und die primäre Myelofibrose (PMF). Die PMF ist eine seltene Erkrankung mit einer jährlichen Inzidenz von 0,5 bis 1,5 pro 100.000 Einwohner. Sie ist über- wiegend eine Erkrankung des älteren Menschen. Das mittlere Alter bei Diagnosestellung liegt bei 65 Jahren. Männer sind etwas häufiger von der Erkrankung betroffen [1]. Die PMF ist nach dem derzeitigen Wissensstand nicht vererbbar. Familiäre Häufungen kommen jedoch vor.

Im initialen Stadium ist die PMF meist asymptomatisch. Oftmals finden sich erste Anzeichen im Rahmen von Routineuntersuchun- gen, z.B. Blutbildveränderungen oder eine Hepatosplenomegalie. Die massive Bildung an sich funktions- tüchtiger Blutzellen kann in der Folge verschiedene Komplikationen verursachen wie z.B. venöse und/ oder arterielle Thrombosen, oder eine erhöhte Blutungsneigung. Die klinischen Symptome sind am Beginn der Erkrankung häufig unspezifisch, hierzu gehören neben Fatigue, Nachtschweiß, Gewichtsverlust und Schwindel auch Schmerzen in den Extremitäten. [1]

Fallbeispiel

Wir berichten über eine 59-jährige Patientin, welche sich mit diffusen Schmerzen im Bereich der Extremitäten, Gewichtsverlust und Fatigue in unserer Sprechstunde vorstellte. Anamnestisch sowie laborchemisch bestand kein Anhalt für das Vorliegen einer rheumatischen Erkrankung, auffallend waren eine Polyglobulie (Hämatokrit 49%, Hämoglobin 16,3 g/ dl) sowie Thrombozytose (620.000/ μl). Die Familienanamnese ergab, dass der 65-jährige Bruder an einer primären Myelofibrose erkrankt war.

Klinisch zeigte sich eine Patientin in reduziertem Allgemein- und Ernährungszustand, es bestanden diffuse Extremitätenschmerzen mit Punctum maximum in der rechten Tibia. Im konventionellen Röntgen- bild der Tibia ergab sich kein Anhalt für eine Knochenpathologie. Im MRT zeigte sich im Knochenmark der Tibia und des Humerus in der T1-gewichteten Spinechosequenz eine fleckige, langstreckige Signalreduktion und korrespondierend hierzu in der stark T2-gewichteten Sequenz eine langstreckige, ödem-äquivalente Signalalteration (s. Abb. 1 und 2). Ein Anhalt für eine weitere ossäre Destruktion oder Periostitis fand sich nicht.

In der 3-Phasen-Skelettszintigraphie zeigte sich keine Radionuklidmehrbelegung. Laborchemisch waren die D-Dimere im Normbereich, mittels farbkodierter Duplexsonographie konnte eine TVT sowie pAVK ausgeschlossen werden. Die Oberbauchsonografie war unauffällig. Die mittels Beckenkammbiopsie gewonnene histologische Knochenmarkanalyse zeigte eine Clusterbildung von Megakaryozyten ohne Hinweis für eine Blastenvermehrung oder Fibrose. Die molekulargenetische Untersuchung ergab eine JAK2 V617F-Mutation, welche ebenfalls beim Bruder nachgewiesen wurde. Unter einer Therapie mit dem JAK2- Tyrosinkinaseinhibitor Ruxolitinib (2x 10 mg/die) kam es zu einer Besserung des Allgemeinzustandes mit gleichzeitigem Abfall der Erythro- und Thrombozytenzahlen. Aufgrund der Gesamtsituation der Patientin wird zum jetzigen Zeitpunkt von einer allogenen Knochenmarktransplantation abgesehen.

Abb. 1a-b: MRT des Unterschenkels.

Links: In der T1-gewichteten SE zeigt sich eine deutliche, diffuse Signalreduktion im Markraum. Rechts: In der korrespondierenden T2- gewichteten, fettunterdrückten STIR findet sich ein diffuses Enhancement.

Diskussion

Patienten mit diffusen Extremitätenschmerzen müssen hinsichtlich einer entzündlichen oder malignen Erkrankung differentialdiagnostisch weiter abgeklärt werden. Eine zusätzliche Erythro- und Thrombozytose kann hinweisend auf das Vorliegen einer beginnenden MPN sein. [2]

Die MPNs repräsentieren eine sehr heterogene Gruppe von Erkrankungen, die mit vermehrtem, normalem oder vermindertem Gehalt des Knochenmarks an hämatopoetischen Zellen einhergehen können. [3] Daher können sich MPNs, je nachdem ob der Fibrosierungsprozess oder der Zellgehalt des Knochenmarks über- wiegt, signalreich oder signalarm auf T1-gewichteten und T2-gewichteten Schnittbildern darstellen. Nach Gabe von Gd-DTPA findet sich in der Regel kein vermehrtes Enhancement in den T1-gewichteten Schnittbildern.

Die bei unserer Patientin vorliegende PMF ist nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht vererbbar, in Einzelfällen ist jedoch, wie in unserem Fall, eine familiäre Häufung möglich.

Abb. 2a-b: MRT der rechten Schulter.

Links: In der T1-gewichteten SE zeigt sich eine deutliche, circumskripte Signalreduktion im Markraum.
Rechts: In der korrespondierenden T2-gewichteten, fettunterdrückten STIR findet sich ein zentral diffuses Enhancement mit deutlicher Signalreduktion im Kalottenbereich.

Die Prognose wird vom Alter der Patienten, konstitutionellen Symptomen sowie von hämatologischen und genetischen Parametern bestimmt.

[4] Hier gewinnen die zytogenetischen und molekulargenetischen Parameter zunehmend an Bedeutung. Lediglich die allogene Stammzellentransplantation kann kurativ sein [2]. Für die symptomatische Therapie stehen unterschiedliche medikamentöse Optionen sowie die lokale Behandlung der Splenomegalie zur Verfügung. In den letzten Jahren hat sich die gezielte orale Therapie mit dem JAK-Inhibitor Ruxolitinib zu einer fest etablierten Therapie der Myelofibrose entwickelt [2].

Literatur

1. Tefferi A. Myelofibrosis with myeloid metaplasia. N Engl J Med 2000; 342(17): 1255-65
2. Tefferi A. Primary myelofibrosis: 2021 update on diagnosis, risk-stratification and management. Am J Hematol 2021; 96(1): 145-162
3. Rozman C, Cervantes F, Rozman M et al. Magnetic resonance imaging in myelofibrosis and essential thrombocythaemia: contribution to differential diagnosis. Br J Haematol 1999; 104(3): 574-580
4. Klampfl T, Gisslinger H, Harutyunyan AS et al. Somatic mutations of calreticulin in myeloproliferative neoplasms. N Engl J Med 2013; 369(25): 2379-2390