Zunahme autoinflammatorischer Erkrankungen: Was steckt dahinter?
Autoinflammatorische Erkrankungen wie unter anderem das familiäre Mittelmeerfieber, Morbus Still oder das VEXAS- Syndrom sind selten – und dennoch nehmen ihre Diagnosen in den letzten Jahren scheinbar zu. Dabei stellen auto- inflammatorische Erkrankungen eine noch vergleichsweise neue, aber zunehmend wichtige Klasse von Erkrankungsbildern dar.
Der Begriff Autoinflammation wurde erstmals 1999 von Daniel L. Kastner am NIH (USA) geprägt – in An- lehnung an Paul Ehrlichs „Horror autotoxicus“, der die Autoimmunität beschrieb. Mit „Horror autoinflam- maticus“ wurde eine neue Gruppe von entzündlichen Erkrankungen definiert, die nicht durch Autoantikör- per oder T-Zellen verursacht werden, sondern durch eine Fehlregulation des angeborenen Immunsystems, die im Ergebnis zu überschießenden, fehlgesteuerten Entzündungsreaktio- nen des Körpers führt. Ursprünglich beschrieb der Begriff vor allem mono- genetische, erbliche Fiebersyndrome, wie etwa zum Beispiel das familiäre Mittelmeerfieber. Inzwischen ist das Erkrankungsspektrum jedoch deutlich erweitert und umfasst auch polygene- tische und multifaktorielle Erkrankun- gen wie zum Beispiel den Morbus Still oder die Gicht.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat unser Wissen über das angeborene Im- munsystem und dessen Schaltstellen für entzündliche Prozesse rasant zuge- nommen. So wurden inzwischen über 50 genetische Mutationen identifiziert, die zu eigenständigen autoinflamma- torischen Krankheitsbildern führen, und die Zahl wächst stetig weiter. [1] Durch moderne molekulargene- tische Verfahren, insbesondere das Next Generation Sequencing, können diese Erkrankungen heute schneller und präziser diagnostiziert werden. Neben angeborenen Mutationen sind mittlerweile auch somatische, also erworbene Veränderungen bekannt. Ein prominentes Beispiel ist das 2020 beschriebene VEXAS-Syndrom, das durch eine Genmutation auf dem X- Chromosom ausgelöst wird. Es betrifft überwiegend Männer über 50 Jahre und führt zu Blutbildveränderungen sowie schweren systemischen Entzün- dungen. [2]
Dabei können autoinflammatorische Erkrankungen sich grundsätzlich in jeder Lebensphase manifestieren – vom Neugeborenen bis ins hohe Alter [3]. Typisch sind multisystemische Entzündungsreaktionen, die parallel meist verschiedene Organsysteme wie zum Beispiel Haut, Nervensystem, Gelenke oder innere Organe betreffen können.
Interessanterweise wissen wir heute auch, dass autoinflammatorische Ent- zündungsprozesse nicht nur seltene genetische Erkrankungen erklären, sondern auch bei häufigen Volkskrank- heiten eine Rolle spielen. So sind sie unter anderem an der Entstehung von Arteriosklerose [4] und möglicher- weise auch bei neurodegenerativen Er- krankungen wie der Demenz beteiligt. [5] Entsprechend geraten zielgerich- tete antiinflammatorische Therapie- konzepte aus der Rheumatologie, etwa die Interleukin-1-Blockade oder die Hemmung des NLRP3-Inflammasoms, zunehmend auch bei der Behandlung dieser Volkskrankheiten in den Fokus.
Die steigende Zahl diagnostizierter Fälle darf dabei nicht vorschnell als „Epidemie“ missverstanden werden, sondern spiegelt in erster Linie den wissenschaftlichen Fortschritt und die verbesserte diagnostische Sensitivi- tät wider: Wir kennen und erkennen heute deutlich mehr Erkrankungen als noch vor 20 Jahren. Autoinflam- matorische Erkrankungen sind damit ein Schlüsselthema der modernen Entzündungsmedizin. Sie ermöglichen grundlegende Einblicke in die Funk- tion unseres Immunsystems, eröffnen neue Therapieansätze und dienen als Modell für das Verständnis zahlreicher entzündlicher Erkrankungen – von seltenen genetischen Syndromen bis hin zu großen Volkskrankheiten.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie und Klinische Immunologie e.V.
Literatur
1. An J et al. J Rheumatol. September 2024;51(9):848–61.
2. Beck DB et al. N Engl J Med. 31. Dezember 2020;383(27):2628–38.
3. Krusche M, Kallinich T. Z Rheumatol. Februar 2022;81(1):45–54.
4. Kong P et al. Signal Transduct Target Ther. 22. April 2022;7(1):131.
5. McManus RM, Latz E. Neuropharmacology. 1. Juli 2024;252:109941.
