Wie DiGAs die Schmerztherapie unterstützen können
Schmerzfrei in der virtuellen Welt
Chronische oder häufig wiederkehrende Schmerzen verlangen den Betroffenen viel ab: Sie beeinträchtigen die Lebensqualität und schränken nicht selten auch das Sozialleben und die berufliche Leistungsfähigkeit ein. Entsprechend wichtig wäre eine frühzeitige und kompetente Behandlung – doch gerade im psychotherapeutischen Bereich herrscht derzeit ein gravierender Mangel an Therapieplätzen. Wie digitale und innovative Anwendungen dabei helfen können, diese Versorgungslücke zu schließen, war ein Schwerpunktthema des diesjährigen Schmerzkongresses der Deutschen Schmerzgesellschaft und der Deutschen Kopf- und Migränegesellschaft (DMKG), der vom 18. bis 21. Oktober 2023 in Mannheim stattfand.
Nach unterschiedlichen Schätzungen sind in Europa mindestens 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung von chronischen Schmerzen betroffen. Über die individuelle Belastung hinaus hat das Leiden damit auch eine große gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung. Als chronisch werden Schmerzen bezeichnet, wenn sie entweder ohne erkennbare körperliche Schädigung in hoher Frequenz über mindestens drei Monate auftreten – wie dies häufig bei chronischen Kopfschmerzen oder Migräne der Fall ist – oder wenn sie deutlich länger anhalten, als dies durch eine vorangegangene akute Verletzung oder Erkrankung erklärbar wäre. „Der Schmerz hat sich quasi verselbständigt und von körperlichen Ursachen entkoppelt“, sagt Privatdozent Dr. med. Lars Neeb, Facharzt für Neurologie und medizinischer Direktor der Helios Global Health und diesjähriger Kongresspräsident.
Ein zentrales Element in der Behandlung chronischer Schmerzen ist die multimodale Schmerztherapie, die neben der medikamentösen Therapie auch Bewegung, Entspannungstherapien und eine kognitive Verhaltenstherapie zur Schmerzbewältigung umfasst. „Hier gibt es jedoch große Versorgungslücken“, sagt Professor Dr. Axel Schäfer, Therapieforscher und Physiotherapeut an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. DiGAs könnten helfen, diese Lücken zu schließen und die ambulante Therapie zu unterstützen. Die digitalen Möglichkeiten seien vielfältig und ihre Wirksamkeit zunehmend gut belegt.
Als Beispiel nennt Schäfer Virtual Reality (VR), der er auf dem Kongress ein eigenes Symposium widmete. Dabei wird über eine VR-Brille die Illusion eines virtuellen Körpers erzeugt, der in einer künstlichen Welt agiert. Das lenkt zum einen effektiv vom Schmerz ab. „Zum anderen kann der Nutzer vollständig in die virtuelle Umgebung eintauchen und den virtuellen Körper im Idealfall als real präsent erleben“, sagt Schäfer. Dieses Phänomen wird Embodiment genannt und als einer der möglichen Wirkmechanismen von VR in der Schmerztherapie diskutiert. Denn durch die Illusion eines virtuellen Körpers verändere sich auch die Körper- und Schmerzwahrnehmung in der realen Welt. In den vergangenen Jahren habe VR daher in der Therapie chronischer Schmerzen zunehmend an Bedeutung gewonnen.
Eine kleine, aber signifikante schmerzlindernde Wirkung lässt sich auch durch speziell entwickelte Smartphone-Apps erzielen. Mittlerweile sind elf solcher Apps für den Indikationsbereich Schmerz vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) anerkannt und als erstattungsfähige DiGAs gelistet. „Meist beinhalten sie Elemente wie Stressreduktion, Entspannung, Schlafhygiene, Ernährung oder ein Schmerztagebuch“, fasst Schäfer zusammen. Damit könnten die Apps eine ambulante Therapie unterstützen und helfen, das Erreichte in den Alltag zu übertragen.
Nicht zuletzt kann auch die Telemedizin dazu beitragen, die Versorgung von Schmerzpatientinnen und -patienten zu verbessern und ortsunabhängig zu machen. „Das therapeutische Potenzial der Digitalisierung ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft und lässt sich bislang allenfalls grob abschätzen“, sagt Kongresspräsident Neeb. Angesichts der rasanten Entwicklung und fehlender Langzeitdaten seien allerdings noch viele Fragen offen. Künftige Forschung zum Thema müsse nicht nur die therapeutischen Effekte genauer evaluieren und Patientengruppen identifizieren, die unterschiedlich gut von den DiGAs profitieren. Sie müsse sich auch damit auseinandersetzen, welche Hürden bei der Anwendung bestehen und wie man Patientinnen und Patienten mit bislang nur geringer Affinität zu digitalen Medien gezielt ansprechen und einbinden sowie sie bei der Nutzung dieser Anwendungen unterstützen könne. Andere Fragen betreffen kulturelle Unterschiede, ethische Bedenken, den Datenschutz, aber auch die Erfahrungen, die Angehörige der Gesundheitsberufe mit den DiGAs machen.
Dabei bieten auch die DiGAs selbst die Möglichkeit, bisher nicht zugängliche Daten zu erheben und damit einen Beitrag zur Erforschung chronischer Schmerzphänomene zu leisten. Neeb verweist in diesem Zusammenhang auf die Migräne- und Clusterkopfschmerz-Apps der DMKG, die eine anonymisierte Verknüpfung der App-Daten mit dem Kopfschmerzregister der DMKG ermöglichen. Damit stünden Real-World-Daten zur Verfügung, mit denen sich viele Fragen schneller und einfacher als bisher beantworten ließen – etwa die Frage nach der Wirksamkeit und möglichen Nebenwirkungen von Migränemedikamenten. Dieses Wissen käme letztlich wieder den Betroffenen zugute. „Denn eines dürfen wir nie aus den Augen verlieren“, so Neeb, „die Digitalisierung darf nie zum Selbstzweck werden, sondern muss immer am Patientenwohl orientiert bleiben und in Behandlungskonzepte eingebunden werden. Sie können die Behandlung unterstützen, aber nicht den direkten Arzt/Therapeuten-Patienten-Kontakt ersetzen.“
Quelle: Deutsche Schmerzgesellschaft e.V.