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Hightech-Medizintechnik „made in Germany“ – Wissensgigant, aber Umsetzungszwerg?

Nach aktuellen Zahlen des Darmstädter WiFOR-Instituts zur ökonomischen Bedeutung der Gesundheitswirtschaft (GW) beliefen sich 2020 die täglichen Ausgaben für Gesundheit in Deutschland auf 1 Mrd. € – entsprechend einer jährlichen Bruttowertschöpfung von 364,5 Mrd. € durch 7,4 Mio. Erwerbstätige. Zugleich wurden bei einem Exportanteil von knapp 9% Exporte in Höhe von 130 Mrd. € jährlich getätigt. Auf den Teilbereich der industriellen Gesundheitswirtschaft (Medizintechnik, Humanarzneimittel, Biotechnologie, eHealth etc.) mit 990.000 Erwerbstätigen (13,5 % der GW) entfielen dabei mit 75 Mrd. € etwa 20 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung. Allein in der Medizintechnik arbeiteten knapp 200.000 Menschen und generierten dabei 13,2 Mrd € Wertschöpfung.

Diese Zahlen zeigen: Gesundheit ist kein reiner Kostenfaktor, sondern ein wesentlicher Motor für Wachstum und Beschäftigung, betonte Professor Dennis A. Ostwald, Geschäftsführer von WiFOR, bei einer Session im Rahmen des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) 2021. Kluge Investition und Innovation in diesem Bereich führe zu besserer Gesundheit und zugleich zu größerem Wohlstand.

Mit einem Umfang von 6,5 Mrd. € Wertschöpfung nur in der Forschung und Entwicklung (F&E) mit 55.000 Beschäftigten und einem Anteil der F&E-Investitionen von 16,9% übertrifft die iGW deutlich das Innovationsziel der Bundesregierung.

Sie bildet damit „das Rückgrat der deutschen Gesundheitswirtschaft für ein effizienteres Gesundheitssystem“, so Ostwald. In punkto Beschäftigung sei sie damit für Deutschland genauso wichtig wie der Fahrzeugbau. Durch die COVID-Pandemie hat die gesamte GW mit einem leichten Rückgang von 7,5 Mrd. € Wertschöpfung und knapp 40.000 Arbeitsplätzen jedoch erstmals seit über 10 Jahren stärker als die Gesamtwirtschaft abgenommen. In der iGW fiel der Corona-bedingte Rückgang noch stärker aus, vor allem bei den kleinen und mittelständischen Unternehmen. Speziell in der Medizintechnik-Branche fiel der Rückgang um 6 Prozentpunkte stärker aus als in der iGW und sogar viermal stärker als in der gesamten GW. Nur eine konsequente Innovationsfreudigkeit kann nach Ansicht von Ostwald bei der Bewältigung solcher Krisen helfen. „Don‘t hesitate, innovate“, lautete daher sein Appell.

Deutschlands MedTech-Branche läuft Gefahr, zum Goliath zu werden

Anna Braun,Vorstandsvorsitzende von B.Braun, Melsungen, sieht jedoch einige Hürden auf diesem Weg. Zwar sei die Medizintechnikbranche in Deutschland bei der Entwicklung neuer Technologien wie smarter Instrumente, Assistenzsysteme im OP, Diagnosesysteme und Prozessvereinfachung sehr stark und innovativ. Doch „unsere heutige Stärke ist gerade kein Garant für Stabilität und Funktionstüchtigkeit in Zukunft in unserem Gesundheitswesen“, warnte sie. Denn demografischer Wandel und digitale Technologien bergen zugleich die Gefahr, diese Spitzenposition zu verlieren. Für immer mehr ältere Patienten in Deutschland fehlten die Personen, die diese Patienten versorgen können. Und neue Technologien brächten die Finanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems unter erheblichen Druck, wenn damit kein Mehrwert generiert werde. Braun befürchtet, das sich die Branche zwar technologisch zu einem Goliath entwickelt, aber vor lauter Größe und vermeintlicher Stärke den richtigen Zeitpunkt verpasst, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen.

Über die Stärkung der Innovationskraft der Unternehmen hinaus sei ein verstärkter Austausch mit den Anwendern im Hinblick auf die Komplexität der digitalen Entwicklungen notwendig. Neben Offenheit und Mut zur Transparenz als Konsequenz aus der Nutzung von immer mehr Gesundheitsdaten erfordere dies auch Standardisierung und Harmonisierung, damit aus diesen Daten echter Mehrwert für Anwender und Patienten generiert werde. Um hier die Souveränität zu behalten, sei ein gemeinsamer Datenraum in Deutschland und Europa nötig, so die Unternehmerin weiter. Zudem dürften Regularien wie die Medical Device Regulation (MDR) Innovationen nicht länger ausbremsen. Denn aktuell würden etwa bei B.Braun 60% der F&E-Ausgaben für die Erstellung von Dokumentationen von Produkten aufgewendet, die seit über 20 Jahren im Markt sind. Um auch künftig eine souveräne und moderne Gesundheitsversorgung der Menschen in diesem Land zu gewährleisten, müsse zudem ein intensiver Austausch über Marktzugang und Erstattungswege für diese neuen digitalen Technologien geführt werden.

Wettbewerb der Versicherungssysteme als Innovationsgarant?

Im Vergleich der Gesundheitssysteme wird Deutschland hinsichtlich des Leistungsumfangs von keinem anderen Land der Welt übertroffen. Für Daniel Bahr, Vorstandsmitglied der Allianz Private Krankenversicherungs-AG und Bundesgesundheits- minister a.D., liegt das wesentlich am Wettbewerb der Systeme von GKV und PKV. Die PKV fungiere als Korrektiv der stark reglementierten und durch die Politik geprägten engen gesetzlichen Rahmen der GKV. In der PKV hat der privat Versicherte die Garantie auf eine lebenslange Versicherungsleistung. Diese Einzelleistungsvergütung der GOÄ als privatrechtlicher Vertrag lässt im Gegensatz zum EBM Freiheit zu und ist damit innovationsfreudiger hinsichtlich moderner Behandlungen.

Ohne die PKV und den Systemwettbewerb hätten wir in Deutschland schon längst ein Einheitssystem mit entsprechender Rationierung wie etwa im britischen NHS, ist Bahr überzeugt. Als Beispiele nannte er das innovative Hepatitis-C- Medikament Sovaldi oder den immunologischen Stuhltest zur Darmkrebs-Früherkennung, die im Vergleich zur PKV in der GKV – basierend auf der Forderung SGB V nach einer „ausreichenden, zweckmäßigen, wirtschaftlichen und das Maß des Notwendigen nicht überschreitenden“ Versorgung – erst mit jahrelanger Verzögerung als Leistung aufgenommen wurden. Bei stationärer und ambulanter Versorgung, innovativer Medizintechnik und auch bei Arzneimitteln ermögliche die PKV einen einfachen Zugang, basierend auf der medizinischen Notwendigkeit und (bei Arzneimitteln) auf einem nachgewiesenen Zusatznutzen, während in der GKV durch GBA-Entscheidungen und durch Umsetzung in EBM-Ziffern innovative Leistungen oft erst mit großer Verzögerung verfügbar sind. Da die Deutschen zudem recht zufrieden mit diesem System seien, sollte man es nicht leichtfertig infrage stellen, so seine Warnung.

Quelle: Sitzung: BP-11 „Innovation versus Regulation in Orthopädie und Unfallchirurgie – verliert Deutschland seine inter- nationale Spitzenstellung?“ beim Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie 2021 (DKOU)